Das dauerhafte Surren und Brummen der Kühlschränke hört Uwe nicht mehr. Das sagt er zumindest denen, die danach fragen, vor allem im Sommer, wenn er die Temperaturregler statt auf Stufe 2 auf die 5 dreht, damit das Bier nicht lauwarm ist und die Klimaanlage eingeschaltet sein muss und ein waberndes Dröhnen den kleinen Raum erfüllt. Eigentlich hört er es natürlich dennoch, das Surren und Brummen, und wenn man es genau nimmt, nervt es ihn manchmal sogar. Eine gute Lösung für dieses Problem hat Uwe noch nicht gefunden – letztendlich bliebe als Gegenmaßnahme nur Musik, denn Ohrstöpsel kann er schließlich kaum benutzen, wegen der Kunden, und außerdem hört er dann das Rauschen seines Bluts und ein leichtes Brummen in seinem Kopf, was aufgrund der fehlenden akustischen Ablenkung noch schlimmer ist. Und Musik fällt aus dem einfachen Grund nicht in Betracht, weil Uwe kein Handy hat – aus Prinzip – und zum CDs kaufen fehlt die Zeit und im Radio weiß man nie, was kommt, und manche Songs findet Uwe einfach scheiße, und das muss schließlich auch nicht sein.
Also versucht Uwe die meiste Zeit, das Brummen in sich aufzunehmen, mit dem Ton eins zu werden, auch wenn er den ganzen esoterischen Firlefanz, der dabei im Subtext mitschwingt, ebenso scheiße findet wie manche der Sachen im Radio, aber das hat ihm Ute empfohlen, die kann er eigentlich ganz gut leiden, weshalb sie auch die einzige seiner Kundinnen ist, der er auf die Frage nach dem Brummen ehrlich geantwortet hat.
Mit dem Summen tief in sich rückt Uwe die Zigarettenschachteln und Tabakpackungen im Wandregal hinter der Theke gerade, pustet kurz nach oben in Richtung der angestaubten Schnapsflaschen (mehr fürs Gefühl; die Flaschen stehen viel zu weit oben, als dass der Luftstrom sie vom Staub befreien könnte, das weiß Uwe, aber so fühlt es sich etwas mehr nach Kümmern an, als sie einsam und vergessen dort zu lassen, mit ihren von Hand beschriebenen kleinen weißen Preisetiketten, die sich an den Rändern leicht abwölben – außer beim Wodka und dem mittelpreisigen Whiskey, die gehen gut weg – andere Spirituosen gehen auch gut weg, aber die stehen im Regal links vom Tabak), dreht sich vom Regal weg und blickt durch den Kiosk. Vor sich auf dem Tresen Kasse, Zahlteller (Lokalzeitung), Rechts davon Feuerzeuge, Schokoriegel verschiedenster Marken, ein Drehständer aus gelbem Plastik für weitere Feuerzeuge und billige Zigarren in Aluminiumröhrchen; links von der Kasse und damit auch links von Uwe eine Wand aus transparentem und rotem Kunststoff, in dem durchnummerierte Weingummi- und Lakritzprodukte auf die Umsortierung in weiße Papierbeutel warten, und links daneben ist schon die Fensterfront, beklebt mit Logos von Eisherstellern, Zeitungen und Tabakfirmen. In der Fensterfront ist auch die Tür, und gegenüber von Uwe und gegenüber von der Tabakwand ist die Kühlschrankreihe, und die rechte Wand ist – abgesehen von einem perlenkettenverhangenen Durchgang – von Regalen für Chips und Klopapier und Shampoo belegt.
Uwe schaut sich um, schaut auf die Uhr, schaut auf den Zeitungsständer – die gingen auch schon mal besser weg, aber naja, so ist das –, schaut noch einmal hinter sich auf das Tabakregal und während er sich wieder und endgültig zur Theke dreht, geht die Tür nicht auf.
“Mensch Uwe ey, man, ich hab dir hundert Mal gesacht, ich mach das mit der Tür hier wenns sein muss, das is doch kacke ey, das ruiniert dein Geschäft”, klingt es dumpf von der klemmenden Eingangstür, die nur einen unpassend kleinen Spalt offen steht.
“Nicht von oben drücken, Kai, dann geht das, das weißt du auch”, erwidert Uwe, geht aber dennoch um den Tresen, sagt jetzt hör auf zu drücken, greift den Türgriff und zieht die Tür zum Kiosk auf.
“Das ist nun mal so, wenn es ganz warm ist, Kai, und dann auch nur einmal am Tag oder so, dann hat die sich wieder. Versteh ich nicht, verstehst du nicht, ist halt so, ne.”
Uwe ist die Angelegenheit mit der Tür halbwegs egal, denn meistens funktioniert sie tadellos – eigentlich fast immer, außer, wenn Kai kommt. Uwe hat den Verdacht, dass sie bei Kai klemmt, weil dieser die Angewohnheit hat, ganz weit oben am Türrahmen zu drücken, vermutlich, weil da sonst niemand hin packt und Kai ein vorsichtiger Typ ist. Auch ist sich Uwe sicher, dass Kai die Tür gar nicht reparieren wollen würde, weil er es so mit Keimen hat, mal mehr, mal weniger, je nach Verfassung und Saison, außer Uwe würde die Tür vor Kais Augen putzen und desinfizieren.
Mit seinem kleinen Finger zieht Kai, um mit möglichst wenig von anderen Händen besudeltem Plastik am Griff in Kontakt zu kommen, die Glastür eines der Kühlschränke auf und greift sich zwei Flaschen Bier; die erste Flasche klemmt er, den Kronkorken als leicht einschneidende, aber sichere Bremse nutzend, zwischen Ring- und Mittelfinger, die zweite ebenso gesichert zwischen Mittel- und Zeigefinger. Drei Schritte später schwenkt er die Flaschen in Richtung Tresen, lässt ihre Hälse noch einige Sekunden zwischen seinen zu Trageschlaufen umfunktionierten Fingern ausschwingen und platziert sie vorsichtig rechts des Zahltellers. Er nickt Uwe mit hochgezogenen Augenbrauen zu, seine Augen von Uwes Gesicht leicht nach rechts, zum Tabak huschend; aus der innenliegenden Brusttasche seiner grauen, etwas ausgeleierten Regenjacke zieht er spitzfingrig einen Geldschein und schnippt ihn auf den Zahlteller.
“Hier”, sagt Uwe, Wechselgeld und eine Packung von Kais Stammtabak auf den Zahlteller legend. Wirklich viel zu sagen haben er und Kai sich nicht, auch wenn sie sich schon Ewigkeiten kennen, so gut, wie man sich kennen kann, wenn man sich täglich für etwa zwei Minuten sieht und nur Floskeln und Belanglosigkeiten austauscht, sich gegenseitig versichernd, dass schon alles irgendwie in Ordnung sein muss. Kai kippt das Kleingeld vom Zahlteller in seine Jackentasche, sagt “pass auf dich auf, ne, und sach, wenn mit der Tür das mal gemacht werden soll”, dreht sich um und verlässt den Kiosk. Die Kühlschränke brummen und summen und Uwe hat das Gefühl, Kopfschmerzen zu bekommen.
II
Nach Kai kamen vor Ladenschluss noch um die 25 Personen in den Laden; die meisten von ihnen wortlos, eilig und zielstrebig. Unter diesen Personen ein paar Leute aus der Nachbarschaft, ein paar Leute, von denen er weiß, dass sein Kiosk auf dem Heimweg liegt und ein paar Leute, die Uwe nie gesehen hat (mit Gesichtern und Namen kann er gut, was für einen Kioskbesitzer sehr von Vorteil ist, die Kunden schätzen es, wenn sie – wie Kai – nur eine Augenbraue heben müssen, ein wenig zögern beim Bezahlen, eine Sekunde zu lange vor dem Kühlschrank stehen, um von Uwe das gewünschte Produkt ausgehändigt zu bekommen, oder, was selten passiert, über das Fehlen desselben aufgeklärt zu werden).
Früher hatte Uwe bis 23 Uhr offen; mittlerweile schließt er um 21 Uhr. Um die Straßenecke hat Özgün seinen Kiosk bis 1 Uhr nachts geöffnet, und weil die Stammkunden, die Uwe mag, eh nicht so spät kommen, ist es es ihm auch ganz recht, wenn die anderen Leute nicht bei ihm vor der Theke stehen und alles unnötig kompliziert machen – Besoffene, die ewig nach Kleingeld suchen, oder seltsam aufgedrehte Studentengrüppchen, die mit weit aufgerissenen Augen hektoliterweise Bier in ihre Stofftaschen stopfen und sich dabei hundertmal umentscheiden, oder Leute, die ganz einfach nichts besseres zu tun haben, als ihm ein Ohr abzukauen. Manche Menschen kann Uwe schon abhaben, und es ist nicht so, als würde er die genannten potentiellen Kunden per se nicht leiden, nur hat er einfach keine Lust mehr auf solchen Firlefanz.
Während Uwe die Kasse macht, mit sanft den Kühlschränken brummenden Kopfschmerzen, 20:58 Uhr, kratzt er sich – was ihm seit Jahren nicht passiert ist, schließlich kennt er sein Inventar – an der scharfen, rechten Kante des Münzfachs einen kleinen Schnitt in die Kuppe seines rechten Zeigefingers. Als er den kleinen Bluttropfen an der winzigen Schnittwunde betrachtet, schwingt die Tür auf.
“Verzeihen Sie, haben Sie Briefmarken?” “Ne, ich bin ja nicht die Post”, sagt Uwe und schaut von seinem Finger auf. Vor ihm steht ein Mann mit verschwitzt-glänzender Stirn und leicht irritierender Erscheinung. An und für sich macht der Mann einen gepflegten Eindruck; seine dunklen Haare sind anständig frisiert, etwas viel Haargel vielleicht, vielleicht ist es auch Schweiß, aber das ist es nicht, was Uwe etwas verdutzt – seit Uwe vor ein paar Wochen ein Plakat für Wet Look Haargel gesehen hat, hinterfragt er Frisuren und den Sinn von Haarprodukten grundsätzlich nicht mehr. Uwe mustert den Mann mit der kaum bemerkbaren Geschwindigkeit und scheinbaren Regungslosigkeit einer Person, die täglich etliche Menschen mehr oder weniger interessiert beschaut: Graues Sakko, ein fehlender Knopf, dafür ein Einstecktuch mit Fahrradmuster; Jeans mit schwarzem Gürtel; ein weißes Hemd, nass geschwitzt; darunter zeichnet sich ein T-Shirt mit unleserlichem Aufdruck ab – Uwe hat seine Brille zum Geld zählen auf die Nasenspitze geschoben –; am Hemdkragen eine Anstecknadel, deren Motiv Uwe ebenso noch nicht erkennen kann; keine Schuhe. Zwischen Haaren und unvollständigem Anzug ein kantiges, etwas abgezehrtes Gesicht ohne Augenbrauen, aus dem Uwe zwei graublaue Augen so sicher und klar entgegenblicken, dass die Aufmachung des Mannes dadurch wie selbstverständlich wirkt.
Der Mann schaut ihn fragend und gleichzeitig wissend an, was Uwe noch einmal ein wenig irritiert. Er hat das Gefühl, den Barfüßigen schon einmal gesehen zu haben, obwohl er sich sicher ist, dass dies nie passiert ist.
“Aber Sie haben doch draußen ein Schild für den Paketdienst?”
“Schon, aber damit verschickste doch keine Post”, antwortet Uwe und senkt den Kopf wieder zur Kasse. Das ist eigentlich gar nicht seine Art, aber der Fremde beunruhigt ihn, vor allem in Kombination mit dem omnipräsenten Summen und Brummen der Kühlschränke und seinen leichten Kopfschmerzen.
“Ja, das mag stimmen”, sagt der Mann. “Ich dachte nur, vielleicht wären Sie so freundlich. Ich müsste einen Brief verschicken, eilig, und ich dachte, ich hätte noch eine Briefmarke. Also, ich habe noch eine Briefmarke. Aber die Preise ändern sich dauernd und nun reicht die nicht mehr aus.”
Die Geldscheine und Münzen in der offenen Kasse vor Uwe beginnen ein wenig zu verschwimmen, als ob der Tresen leicht vibrieren würde, und er schaut mit steigendem Druck auf den Schläfen wieder auf zum fremden, barfüßigen Mann. Unter anderem wegen der wechselnden Portokosten hat er es aufgegeben, Briefmarken anzubieten; alle paar Wochen musste er sich für die Preisanstiege erklären, als ob er es wäre, der sie bestimmen würde, was teils zu hitzigen Situationen und vor allem sehr langen Vorträgen seiner Kunden und Kundinnen führte, wie scheiße das doch sei und wie unübersichtlich und anstrengend, und manche Kunden baten auch darum, die Briefe einfach bei ihm zu lassen (Die Post kommt doch eh hier vorbei, sagten sie, Ja ne, zum Post vorbeibringen, aber doch nicht zum Abholen, wofür gibt es denn Briefkästen, sagte Uwe). Alles in Allem eine unnütz anstrengende und zeitraubende Angelegenheit, und deshalb hat Uwe keine Briefmarken im Angebot.
Zwischen dem Dröhnen und Brummen und Wummern und Drücken in seinem Kopf hört er sich sagen: “Ich hab glaube, ich hab noch welche für meine eigene Post … warte mal”, zieht eine Schublade unter dem Tresen auf und fischt mit der linken Hand zwei Briefmarken heraus, legt sie auf den Zahlteller der Lokalzeitung und wundert sich dabei, was er gerade tut. Sein Blick verweilt an den Füßen des Fremden.
“Warum machst du das, mit ohne Schuhe rumlaufen?”, fragt er.
“Ich bin dann mehr … im Einklang, denke ich”, antwortet der Fremde zögernd, aber mit einer Ruhe, die vollkommene Überzeugung ausdrückt. “Und es ist besser für den Gang, in Schuhen ist man so, naja, gefedert, wissen Sie, dass man dazu neigt, auf die Ferse aufzutreten, das ist für die Gelenke sehr belastend.”
Er nickt, um seine Worte zu unterstreichen. Uwe schaut ihm nun wieder in die Augen, blinzelt, sein Blick huscht zur Anstecknadel am Hemdkragen; eine Briefmarke mit gelbem Smiley auf blauem Grund.
“Hm, mag sein”, antwortet Uwe, dessen Kopfschmerzen sich wieder etwas mildern, “aber ich finde das mit Schuhen, das ist schon nicht so schlecht als Erfindung. Naja, nimm einfach die Briefmarke, geht schon klar”, schließt er ab, hoffend, dass der Mann nun geht.
“Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen”, sagt der Fremde und legt im Austausch gegen Uwes Briefmarke eine winzige Marke, scheinbar aus dem Nichts gezaubert, auf den Zahlteller und schaut ihn mit seinem graublauen, durchdringenden Blick an.
“Nehmen Sie die hier als Dank.”
Uwe blickt ihn wieder fragend an, diesmal schafft er es trotz jahrelanger Übung nicht, seine Irritation zu verbergen.
“Naja, soweit ich weiß, verlieren die nicht an Wert. Sie können damit jetzt keinen Brief abschicken, aber im Endeffekt haben Sie dann nur ein paar Cent Verlust gemacht, wenn Sie es so bezeichnen wollen würden. Und natürlich einen schönen Feierabend Ihnen.” Der Fremde dreht sich um und verlässt nicht ungewöhnlicher als sonstige Kunden – sofern sich in einem Kiosk Gewöhnlichkeit einstellt – den Laden in die sommerliche Dämmerung.
III
Dem Zufallen der Tür folgt den Bruchteil einer Sekunde unvorstellbare, bleierne Stille. Dann schwillt das Wummern der Kühlschränke wieder an, und diesmal kann Uwe nicht mit in ihren Walgesang einsteigen, findet weder seine innere Mitte, wie Ute es im gesagt hatte, einfach ruhig atmen, das Geräusch einfach als anwesend wahrnehmen, noch kann er das Brummen ignorieren. Uwe schaut auf den Zahlteller, merkt, dass er seinen minimalverwundeten Finger immer noch ausgestreckt hat, wischt den Bluttropfen an seiner Hose ab und greift nach der winzigen Briefmarke. Während er mit der linken Hand seine Brille wieder hoch rückt, hebt er das kleine Stück Papier zwischen Zeigefinger und Daumennagel fixiert vor sein Gesicht und betrachtet es eingehend. Die Kopfschmerzen sind wie verflogen, die Irritation ist geblieben, und das obskur mickrige Format dieser Briefmarke mindert die Verwirrung nicht. Uwe schätzt die Größe auf maximal einen Zentimeter mal einen Zentimeter; trotz dieser überschaubaren Dimensionen wirkt sonst alles an ihr wie an einer gewöhnlichen Briefmarke. Ihr weiß gezähnter Rand umrahmt eine blau-grüne Fläche; auf ihr das in weiß ausgesparte Portrait einer Uwe unbekannten Person, vermutlich ein Politiker oder Erfinder, entziffern lässt sich der Schriftzug unter dem Konterfei nicht, seiner mikroskopischen Größe verschuldet; in der rechten oberen Ecke ist eine schwarz umrandete, weiße 55 gedruckt.
“Ja, super, du Scherzkeks,” sagt Uwe in den leeren Kiosk. Er sieht noch einmal durch den Raum, legt die Briefmarke wieder auf den Zahlteller, macht die Kasse fertig, geht in Richtung des perlenkettenverhangenen Durchgangs und knipst das Licht aus. Er atmet ein, er atmet aus. Das Brummen der Kühlschränke wird schwächer, schwill kurz an, und wie in Trance dreht sich Uwe noch einmal zum Tresen und greift die Briefmarke. Das Brummen der Kühlschränke schwillt ein letztes Mal leicht an, als Uwe den Kiosk verlässt, die Tür abschließt und, mit der Briefmarke zwischen den Fingern, nach Hause geht. Auf dem Heimweg setzt das Brummen wieder ein.
IV
Die letzte Woche über hat das Brummen einen neuen Platz in Uwes Leben eingenommen, ebenso wie die winzige Briefmarke.
Wie lange machst du den Laden hier schon, hat Kowi, so nennt Uwe Herrn Kowalczyk, der sein Getränkelieferant ist, ihn vor ein paar Tagen gefragt, als Uwe ihm, ganz entgegen seiner sonstigen Art, von dem Fremden mit der Briefmarke erzählt hat. Sind doch genug sonderbare Gestalten hier unterwegs. Also ist schon lustig, so eine kleine Briefmarke, aber auch nicht so lustig, dass das versteckte Kamera oder so sein könnte. Andererseits gucken sich junge Leute ja allen möglichen Quatsch an, so mit Leute auf der Straße was fragen, als Streich weißt du? Uwe verkniff sich, noch einmal darauf hinzuweisen, dass der Fremde Mann kein Teenager mit Handy war, und brummte nur einmal kurz, in der gleichen Tonlage wie das Brummen, das nun dauerhaft in ihm zu schwingen scheint. Brummend antwortete er auch auf Kais Frage, ob alles in Ordnung sei mit ihm; Uwe hatte ihm den falschen Tabak ausgehändigt, weil für einen kurzen Moment alle Tabakpackungen und Zigarettenschachteln in Neonfarben zu strahlen schienen, Logos und Farben verschmelzend und sich zu einer schimmernden Collage formend, sein ganzes Sichtfeld einnahm und ihm das Gefühl gab, aufgesogen zu werden. Dies alles dauerte nur einige Sekunden, aber genau in jenen Sekunden war Uwes Arm schon zum Tabak ausgestreckt und griff, im Allgemeinen Kuddelmudel aus Farben und Formen ebenso verschmelzend wie Regale und Packungen, einen kleinen Beutel des falschen Tabaks. Alles in Ordnung?, hörte er Kai sagen, hörte sich Hmmmhm brummen, gab Kai den richtigen Tabak, kassierte und dachte an Korallenriffe, die er nur aus dem Fernsehen kannte.
Außer Kowi hat Uwe niemandem etwas von seiner veränderten Verfassung erzählt; genau genommen hat er auch Kowi gegenüber nur kurz angedeutet, dass er den Fremden sonderbar fand, nicht, dass das Brummen in seinem Kopf und Körper seitdem nicht ganz fort zu bekommen war, sich in kürzer werdenden Intervallen verstärkt, und er sich zeitweise fühlt, als würden die Moleküle seiner Haut sich in die Umgebung auflösen; eine Art vibrierender, atomarer Aura umgibt ihn seit dem Besuch des Fremden. Die Briefmarke trägt Uwe immer bei sich. Ohne die Bedeutung zu wissen, ist es ihm ebenso wichtig sie bei sich zu führen wie seine Brille, eine Packung Taschentücher oder seine Geldbörse. In Momenten, in denen keine Kunden im Kiosk sind, legt er sie sich auf die Fingerspitze und betrachtet den Rand, immer ein wenig flirrend und leuchtend. Der kleine Schnitt an der Fingerspitze ist mittlerweile verheilt; wie ein rot glühender Peitschenhieb sieht er aus, und ein wenig, als würde er atmen. Atmen tun auch die Kühlschränke, und ihr beständiges ein- und ausdehnen scheint Wellen im Kiosk auszulösen, von denen der Perlenvorhang in Schwung gerät und das Licht ein wenig gebrochen wird. Uwe ist nicht beunruhigt; das sanfte ansteigen des neuen Zustands fühlt sich fast natürlich an, und noch ist er den Großteil des Tages halbwegs beisammen, bis auf ein paar kleine Aussetzer und Konzentrationsschwierigkeiten – es kommen ihm die sonderbarsten Bilder in den Kopf, vielmehr, sind diese Bilder, für einen Augenblick nur, beim Einschlafen länger; sie sind, genauso wie alles für Uwe nur ist. Wenn es allerdings noch mehr wird, denkt sich Uwe, naja, dann sollte man vielleicht mal zum Doktor gehen.
V
Ein paar Tage später flirrt alles in Uwes Sichtfeld dauerhaft. Nicht nur das der Kiosk flirrt und surrt, auch Uwe selbst scheint immer mehr zu flirren, an den Außenrändern, manchmal scheint ihm, als wenn sein Hinterkopf sich leuchtend auflöst, mit einem Gefühl, als fiele er nach hinten, oder eher: als fiele alles durch sein Gesicht, durch sein Gehirn, seinen Hinterkopf, der ganze Kiosk rauscht wie eine Eisenbahn durch einen Tunnel in Uwe hinein und hinaus, und gleichzeitig schweben Uwes Arme weit weg von ihm, oder wirken mehrdimensional, als wären sie die Wände und Uwe der Kiosk. Wenn der Kiosk ihn – oder er den Kiosk – durchschossen hat, schüttelt Uwe den Kopf, bedient die nächste Kundin oder füllt die Flaschen in den Kühlschränken nach – brummend, summend. Für eine Weile fühlt er sich dann fast normal; der Gedanke, zum Doktor zu gehen, ist verflogen. Uwe stört es auch nicht, dass die Kunden etwas kürzer angebunden sind als sonst und manche von ihnen die letzten Tage zwar an der Scheibe vorbeigelaufen, aber nicht hereingekommen sind; manche Leute haben es halt eilig, denkt er sich, und ich habe es gerade halt nicht so eilig – eine ganz gewöhnliche Feststellung eben, die vollends wertungsfrei einfach nur ist; und wenn er dann doch etwas zu tun hat, funktioniert es, von kleinen Aussetzern abgesehen – Lieferungen oder Päckchen annehmen, andere Päckchen abgeben, Bestellungen aufgeben, Vorräte überprüfen, gemischte Tüten einfüllen, Kassieren; nur ein wenig langsamer und bunter als sonst und gelegentlich so flirrend, dass er, wortkarg, eigentlich nur zustimmend oder ablehnend brummend, doch für einen Augenblick weitaus mehr in Auflösung inbegriffen ist als für gewöhnlich. Dann geht die Tür auf.
“Du wirkst sonderbar, Uwe.” Ute schaut ihn besorgt an. Uwe schaut zurück. Utes rote Haare wehen wie Seetang um sie herum, flirrend an den Rändern, und die Kühlschränke blitzen und blinken hinter ihr.
“Hm”, brummt Uwe. Seine Stirn schwebt wie eine Scheibe Milchglas vor ihm, er sieht Adern darin, den Knochen, die Haut; darunter mit ein wenig Abstand schweben seine Augäpfel. Er hat das Gefühl, als würde er aus seinem Gehirn schauen.
“Ist schon okay, bisschen Kopfschmerzen habbich in letzte Zeit”, hört er sich sagen. Die Töne klingen langgestreckt, elektrisch, nicht wie eine Stimme, und er sieht die Töne wie Lianen aus seinem Kopf wachsen und sich durch den Raum winden.
“Du brauchst mal Urlaub, glaub mir. Stell wen ein, oder mach einfach mal fünf Tage zu, das tut dir sicher gut. Das kann auch eine innere Blockade sein oder …” Utes Worte schwellen zu einer unkenntlichen Welle an Geräuschen an, die Uwes mittlerweile in transluzente Molekülwolken transformierten Kopf mit sich reißt, in einen rot leuchtenden Strom aus Energie; Uwe sieht den Kiosk von oben, sieht sich von oben, der ganze Raum in gleißendes, flackerndes Licht gehüllt, wie ein Schwimmbecken aus Energie, sieht darin sich hinter dem Tresen, Ute; ein Kunde tritt in den flirrenden, brummenden Raum, und als ein Mann in sonderbar unpassender Kleidung und ohne Schuhe durch die Tür tritt, löst Uwe sich vollends auf.
I
Das dauerhafte Surren und Brummen der Kühlschränke hört Uwe nicht mehr. Das sagt er zumindest denen, die danach fragen, vor allem im Sommer, wenn er die Temperaturregler statt auf Stufe 2 auf die 5 dreht, damit das Bier nicht lauwarm ist und die Klimaanlage eingeschaltet sein muss und ein waberndes Dröhnen den kleinen Raum erfüllt. Eigentlich hört er es natürlich dennoch, das Surren und Brummen, und wenn man es genau nimmt, nervt es ihn manchmal sogar. Eine gute Lösung für dieses Problem hat Uwe noch nicht gefunden – letztendlich bliebe als Gegenmaßnahme nur Musik, denn Ohrstöpsel kann er schließlich kaum benutzen, wegen der Kunden, und außerdem hört er dann das Rauschen seines Bluts und ein leichtes Brummen in seinem Kopf, was aufgrund der fehlenden akustischen Ablenkung noch schlimmer ist. Und Musik fällt aus dem einfachen Grund nicht in Betracht, weil Uwe kein Handy hat – aus Prinzip – und zum CDs kaufen fehlt die Zeit und im Radio weiß man nie, was kommt, und manche Songs findet Uwe einfach scheiße, und das muss schließlich auch nicht sein.
Also versucht Uwe die meiste Zeit, das Brummen in sich aufzunehmen, mit dem Ton eins zu werden, auch wenn er den ganzen esoterischen Firlefanz, der dabei im Subtext mitschwingt, ebenso scheiße findet wie manche der Sachen im Radio, aber das hat ihm Ute empfohlen, die kann er eigentlich ganz gut leiden, weshalb sie auch die einzige seiner Kundinnen ist, der er auf die Frage nach dem Brummen ehrlich geantwortet hat.
Mit dem Summen tief in sich rückt Uwe die Zigarettenschachteln und Tabakpackungen im Wandregal hinter der Theke gerade, pustet kurz nach oben in Richtung der angestaubten Schnapsflaschen (mehr fürs Gefühl; die Flaschen stehen viel zu weit oben, als dass der Luftstrom sie vom Staub befreien könnte, das weiß Uwe, aber so fühlt es sich etwas mehr nach Kümmern an, als sie einsam und vergessen dort zu lassen, mit ihren von Hand beschriebenen kleinen weißen Preisetiketten, die sich an den Rändern leicht abwölben – außer beim Wodka und dem mittelpreisigen Whiskey, die gehen gut weg – andere Spirituosen gehen auch gut weg, aber die stehen im Regal links vom Tabak), dreht sich vom Regal weg und blickt durch den Kiosk. Vor sich auf dem Tresen Kasse, Zahlteller (Lokalzeitung), Rechts davon Feuerzeuge, Schokoriegel verschiedenster Marken, ein Drehständer aus gelbem Plastik für weitere Feuerzeuge und billige Zigarren in Aluminiumröhrchen; links von der Kasse und damit auch links von Uwe eine Wand aus transparentem und rotem Kunststoff, in dem durchnummerierte Weingummi- und Lakritzprodukte auf die Umsortierung in weiße Papierbeutel warten, und links daneben ist schon die Fensterfront, beklebt mit Logos von Eisherstellern, Zeitungen und Tabakfirmen. In der Fensterfront ist auch die Tür, und gegenüber von Uwe und gegenüber von der Tabakwand ist die Kühlschrankreihe, und die rechte Wand ist – abgesehen von einem perlenkettenverhangenen Durchgang – von Regalen für Chips und Klopapier und Shampoo belegt.
Uwe schaut sich um, schaut auf die Uhr, schaut auf den Zeitungsständer – die gingen auch schon mal besser weg, aber naja, so ist das –, schaut noch einmal hinter sich auf das Tabakregal und während er sich wieder und endgültig zur Theke dreht, geht die Tür nicht auf.
“Mensch Uwe ey, man, ich hab dir hundert Mal gesacht, ich mach das mit der Tür hier wenns sein muss, das is doch kacke ey, das ruiniert dein Geschäft”, klingt es dumpf von der klemmenden Eingangstür, die nur einen unpassend kleinen Spalt offen steht.
“Nicht von oben drücken, Kai, dann geht das, das weißt du auch”, erwidert Uwe, geht aber dennoch um den Tresen, sagt jetzt hör auf zu drücken, greift den Türgriff und zieht die Tür zum Kiosk auf.
“Das ist nun mal so, wenn es ganz warm ist, Kai, und dann auch nur einmal am Tag oder so, dann hat die sich wieder. Versteh ich nicht, verstehst du nicht, ist halt so, ne.”
Uwe ist die Angelegenheit mit der Tür halbwegs egal, denn meistens funktioniert sie tadellos – eigentlich fast immer, außer, wenn Kai kommt. Uwe hat den Verdacht, dass sie bei Kai klemmt, weil dieser die Angewohnheit hat, ganz weit oben am Türrahmen zu drücken, vermutlich, weil da sonst niemand hin packt und Kai ein vorsichtiger Typ ist. Auch ist sich Uwe sicher, dass Kai die Tür gar nicht reparieren wollen würde, weil er es so mit Keimen hat, mal mehr, mal weniger, je nach Verfassung und Saison, außer Uwe würde die Tür vor Kais Augen putzen und desinfizieren.
Mit seinem kleinen Finger zieht Kai, um mit möglichst wenig von anderen Händen besudeltem Plastik am Griff in Kontakt zu kommen, die Glastür eines der Kühlschränke auf und greift sich zwei Flaschen Bier; die erste Flasche klemmt er, den Kronkorken als leicht einschneidende, aber sichere Bremse nutzend, zwischen Ring- und Mittelfinger, die zweite ebenso gesichert zwischen Mittel- und Zeigefinger. Drei Schritte später schwenkt er die Flaschen in Richtung Tresen, lässt ihre Hälse noch einige Sekunden zwischen seinen zu Trageschlaufen umfunktionierten Fingern ausschwingen und platziert sie vorsichtig rechts des Zahltellers. Er nickt Uwe mit hochgezogenen Augenbrauen zu, seine Augen von Uwes Gesicht leicht nach rechts, zum Tabak huschend; aus der innenliegenden Brusttasche seiner grauen, etwas ausgeleierten Regenjacke zieht er spitzfingrig einen Geldschein und schnippt ihn auf den Zahlteller.
“Hier”, sagt Uwe, Wechselgeld und eine Packung von Kais Stammtabak auf den Zahlteller legend. Wirklich viel zu sagen haben er und Kai sich nicht, auch wenn sie sich schon Ewigkeiten kennen, so gut, wie man sich kennen kann, wenn man sich täglich für etwa zwei Minuten sieht und nur Floskeln und Belanglosigkeiten austauscht, sich gegenseitig versichernd, dass schon alles irgendwie in Ordnung sein muss. Kai kippt das Kleingeld vom Zahlteller in seine Jackentasche, sagt “pass auf dich auf, ne, und sach, wenn mit der Tür das mal gemacht werden soll”, dreht sich um und verlässt den Kiosk. Die Kühlschränke brummen und summen und Uwe hat das Gefühl, Kopfschmerzen zu bekommen.
II
Nach Kai kamen vor Ladenschluss noch um die 25 Personen in den Laden; die meisten von ihnen wortlos, eilig und zielstrebig. Unter diesen Personen ein paar Leute aus der Nachbarschaft, ein paar Leute, von denen er weiß, dass sein Kiosk auf dem Heimweg liegt und ein paar Leute, die Uwe nie gesehen hat (mit Gesichtern und Namen kann er gut, was für einen Kioskbesitzer sehr von Vorteil ist, die Kunden schätzen es, wenn sie – wie Kai – nur eine Augenbraue heben müssen, ein wenig zögern beim Bezahlen, eine Sekunde zu lange vor dem Kühlschrank stehen, um von Uwe das gewünschte Produkt ausgehändigt zu bekommen, oder, was selten passiert, über das Fehlen desselben aufgeklärt zu werden).
Früher hatte Uwe bis 23 Uhr offen; mittlerweile schließt er um 21 Uhr. Um die Straßenecke hat Özgün seinen Kiosk bis 1 Uhr nachts geöffnet, und weil die Stammkunden, die Uwe mag, eh nicht so spät kommen, ist es es ihm auch ganz recht, wenn die anderen Leute nicht bei ihm vor der Theke stehen und alles unnötig kompliziert machen – Besoffene, die ewig nach Kleingeld suchen, oder seltsam aufgedrehte Studentengrüppchen, die mit weit aufgerissenen Augen hektoliterweise Bier in ihre Stofftaschen stopfen und sich dabei hundertmal umentscheiden, oder Leute, die ganz einfach nichts besseres zu tun haben, als ihm ein Ohr abzukauen. Manche Menschen kann Uwe schon abhaben, und es ist nicht so, als würde er die genannten potentiellen Kunden per se nicht leiden, nur hat er einfach keine Lust mehr auf solchen Firlefanz.
Während Uwe die Kasse macht, mit sanft den Kühlschränken brummenden Kopfschmerzen, 20:58 Uhr, kratzt er sich – was ihm seit Jahren nicht passiert ist, schließlich kennt er sein Inventar – an der scharfen, rechten Kante des Münzfachs einen kleinen Schnitt in die Kuppe seines rechten Zeigefingers. Als er den kleinen Bluttropfen an der winzigen Schnittwunde betrachtet, schwingt die Tür auf.
“Verzeihen Sie, haben Sie Briefmarken?”
“Ne, ich bin ja nicht die Post”, sagt Uwe und schaut von seinem Finger auf. Vor ihm steht ein Mann mit verschwitzt-glänzender Stirn und leicht irritierender Erscheinung. An und für sich macht der Mann einen gepflegten Eindruck; seine dunklen Haare sind anständig frisiert, etwas viel Haargel vielleicht, vielleicht ist es auch Schweiß, aber das ist es nicht, was Uwe etwas verdutzt – seit Uwe vor ein paar Wochen ein Plakat für Wet Look Haargel gesehen hat, hinterfragt er Frisuren und den Sinn von Haarprodukten grundsätzlich nicht mehr. Uwe mustert den Mann mit der kaum bemerkbaren Geschwindigkeit und scheinbaren Regungslosigkeit einer Person, die täglich etliche Menschen mehr oder weniger interessiert beschaut: Graues Sakko, ein fehlender Knopf, dafür ein Einstecktuch mit Fahrradmuster; Jeans mit schwarzem Gürtel; ein weißes Hemd, nass geschwitzt; darunter zeichnet sich ein T-Shirt mit unleserlichem Aufdruck ab – Uwe hat seine Brille zum Geld zählen auf die Nasenspitze geschoben –; am Hemdkragen eine Anstecknadel, deren Motiv Uwe ebenso noch nicht erkennen kann; keine Schuhe. Zwischen Haaren und unvollständigem Anzug ein kantiges, etwas abgezehrtes Gesicht ohne Augenbrauen, aus dem Uwe zwei graublaue Augen so sicher und klar entgegenblicken, dass die Aufmachung des Mannes dadurch wie selbstverständlich wirkt.
Der Mann schaut ihn fragend und gleichzeitig wissend an, was Uwe noch einmal ein wenig irritiert. Er hat das Gefühl, den Barfüßigen schon einmal gesehen zu haben, obwohl er sich sicher ist, dass dies nie passiert ist.
“Aber Sie haben doch draußen ein Schild für den Paketdienst?”
“Schon, aber damit verschickste doch keine Post”, antwortet Uwe und senkt den Kopf wieder zur Kasse. Das ist eigentlich gar nicht seine Art, aber der Fremde beunruhigt ihn, vor allem in Kombination mit dem omnipräsenten Summen und Brummen der Kühlschränke und seinen leichten Kopfschmerzen.
“Ja, das mag stimmen”, sagt der Mann. “Ich dachte nur, vielleicht wären Sie so freundlich. Ich müsste einen Brief verschicken, eilig, und ich dachte, ich hätte noch eine Briefmarke. Also, ich habe noch eine Briefmarke. Aber die Preise ändern sich dauernd und nun reicht die nicht mehr aus.”
Die Geldscheine und Münzen in der offenen Kasse vor Uwe beginnen ein wenig zu verschwimmen, als ob der Tresen leicht vibrieren würde, und er schaut mit steigendem Druck auf den Schläfen wieder auf zum fremden, barfüßigen Mann. Unter anderem wegen der wechselnden Portokosten hat er es aufgegeben, Briefmarken anzubieten; alle paar Wochen musste er sich für die Preisanstiege erklären, als ob er es wäre, der sie bestimmen würde, was teils zu hitzigen Situationen und vor allem sehr langen Vorträgen seiner Kunden und Kundinnen führte, wie scheiße das doch sei und wie unübersichtlich und anstrengend, und manche Kunden baten auch darum, die Briefe einfach bei ihm zu lassen (Die Post kommt doch eh hier vorbei, sagten sie, Ja ne, zum Post vorbeibringen, aber doch nicht zum Abholen, wofür gibt es denn Briefkästen, sagte Uwe). Alles in Allem eine unnütz anstrengende und zeitraubende Angelegenheit, und deshalb hat Uwe keine Briefmarken im Angebot.
Zwischen dem Dröhnen und Brummen und Wummern und Drücken in seinem Kopf hört er sich sagen: “Ich hab glaube, ich hab noch welche für meine eigene Post … warte mal”, zieht eine Schublade unter dem Tresen auf und fischt mit der linken Hand zwei Briefmarken heraus, legt sie auf den Zahlteller der Lokalzeitung und wundert sich dabei, was er gerade tut. Sein Blick verweilt an den Füßen des Fremden.
“Warum machst du das, mit ohne Schuhe rumlaufen?”, fragt er.
“Ich bin dann mehr … im Einklang, denke ich”, antwortet der Fremde zögernd, aber mit einer Ruhe, die vollkommene Überzeugung ausdrückt. “Und es ist besser für den Gang, in Schuhen ist man so, naja, gefedert, wissen Sie, dass man dazu neigt, auf die Ferse aufzutreten, das ist für die Gelenke sehr belastend.”
Er nickt, um seine Worte zu unterstreichen. Uwe schaut ihm nun wieder in die Augen, blinzelt, sein Blick huscht zur Anstecknadel am Hemdkragen; eine Briefmarke mit gelbem Smiley auf blauem Grund.
“Hm, mag sein”, antwortet Uwe, dessen Kopfschmerzen sich wieder etwas mildern, “aber ich finde das mit Schuhen, das ist schon nicht so schlecht als Erfindung. Naja, nimm einfach die Briefmarke, geht schon klar”, schließt er ab, hoffend, dass der Mann nun geht.
“Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen”, sagt der Fremde und legt im Austausch gegen Uwes Briefmarke eine winzige Marke, scheinbar aus dem Nichts gezaubert, auf den Zahlteller und schaut ihn mit seinem graublauen, durchdringenden Blick an.
“Nehmen Sie die hier als Dank.”
Uwe blickt ihn wieder fragend an, diesmal schafft er es trotz jahrelanger Übung nicht, seine Irritation zu verbergen.
“Naja, soweit ich weiß, verlieren die nicht an Wert. Sie können damit jetzt keinen Brief abschicken, aber im Endeffekt haben Sie dann nur ein paar Cent Verlust gemacht, wenn Sie es so bezeichnen wollen würden. Und natürlich einen schönen Feierabend Ihnen.” Der Fremde dreht sich um und verlässt nicht ungewöhnlicher als sonstige Kunden – sofern sich in einem Kiosk Gewöhnlichkeit einstellt – den Laden in die sommerliche Dämmerung.
III
Dem Zufallen der Tür folgt den Bruchteil einer Sekunde unvorstellbare, bleierne Stille. Dann schwillt das Wummern der Kühlschränke wieder an, und diesmal kann Uwe nicht mit in ihren Walgesang einsteigen, findet weder seine innere Mitte, wie Ute es im gesagt hatte, einfach ruhig atmen, das Geräusch einfach als anwesend wahrnehmen, noch kann er das Brummen ignorieren. Uwe schaut auf den Zahlteller, merkt, dass er seinen minimalverwundeten Finger immer noch ausgestreckt hat, wischt den Bluttropfen an seiner Hose ab und greift nach der winzigen Briefmarke. Während er mit der linken Hand seine Brille wieder hoch rückt, hebt er das kleine Stück Papier zwischen Zeigefinger und Daumennagel fixiert vor sein Gesicht und betrachtet es eingehend. Die Kopfschmerzen sind wie verflogen, die Irritation ist geblieben, und das obskur mickrige Format dieser Briefmarke mindert die Verwirrung nicht. Uwe schätzt die Größe auf maximal einen Zentimeter mal einen Zentimeter; trotz dieser überschaubaren Dimensionen wirkt sonst alles an ihr wie an einer gewöhnlichen Briefmarke. Ihr weiß gezähnter Rand umrahmt eine blau-grüne Fläche; auf ihr das in weiß ausgesparte Portrait einer Uwe unbekannten Person, vermutlich ein Politiker oder Erfinder, entziffern lässt sich der Schriftzug unter dem Konterfei nicht, seiner mikroskopischen Größe verschuldet; in der rechten oberen Ecke ist eine schwarz umrandete, weiße 55 gedruckt.
“Ja, super, du Scherzkeks,” sagt Uwe in den leeren Kiosk. Er sieht noch einmal durch den Raum, legt die Briefmarke wieder auf den Zahlteller, macht die Kasse fertig, geht in Richtung des perlenkettenverhangenen Durchgangs und knipst das Licht aus. Er atmet ein, er atmet aus. Das Brummen der Kühlschränke wird schwächer, schwill kurz an, und wie in Trance dreht sich Uwe noch einmal zum Tresen und greift die Briefmarke. Das Brummen der Kühlschränke schwillt ein letztes Mal leicht an, als Uwe den Kiosk verlässt, die Tür abschließt und, mit der Briefmarke zwischen den Fingern, nach Hause geht. Auf dem Heimweg setzt das Brummen wieder ein.
IV
Die letzte Woche über hat das Brummen einen neuen Platz in Uwes Leben eingenommen, ebenso wie die winzige Briefmarke.
Wie lange machst du den Laden hier schon, hat Kowi, so nennt Uwe Herrn Kowalczyk, der sein Getränkelieferant ist, ihn vor ein paar Tagen gefragt, als Uwe ihm, ganz entgegen seiner sonstigen Art, von dem Fremden mit der Briefmarke erzählt hat. Sind doch genug sonderbare Gestalten hier unterwegs. Also ist schon lustig, so eine kleine Briefmarke, aber auch nicht so lustig, dass das versteckte Kamera oder so sein könnte. Andererseits gucken sich junge Leute ja allen möglichen Quatsch an, so mit Leute auf der Straße was fragen, als Streich weißt du? Uwe verkniff sich, noch einmal darauf hinzuweisen, dass der Fremde Mann kein Teenager mit Handy war, und brummte nur einmal kurz, in der gleichen Tonlage wie das Brummen, das nun dauerhaft in ihm zu schwingen scheint. Brummend antwortete er auch auf Kais Frage, ob alles in Ordnung sei mit ihm; Uwe hatte ihm den falschen Tabak ausgehändigt, weil für einen kurzen Moment alle Tabakpackungen und Zigarettenschachteln in Neonfarben zu strahlen schienen, Logos und Farben verschmelzend und sich zu einer schimmernden Collage formend, sein ganzes Sichtfeld einnahm und ihm das Gefühl gab, aufgesogen zu werden. Dies alles dauerte nur einige Sekunden, aber genau in jenen Sekunden war Uwes Arm schon zum Tabak ausgestreckt und griff, im Allgemeinen Kuddelmudel aus Farben und Formen ebenso verschmelzend wie Regale und Packungen, einen kleinen Beutel des falschen Tabaks. Alles in Ordnung?, hörte er Kai sagen, hörte sich Hmmmhm brummen, gab Kai den richtigen Tabak, kassierte und dachte an Korallenriffe, die er nur aus dem Fernsehen kannte.
Außer Kowi hat Uwe niemandem etwas von seiner veränderten Verfassung erzählt; genau genommen hat er auch Kowi gegenüber nur kurz angedeutet, dass er den Fremden sonderbar fand, nicht, dass das Brummen in seinem Kopf und Körper seitdem nicht ganz fort zu bekommen war, sich in kürzer werdenden Intervallen verstärkt, und er sich zeitweise fühlt, als würden die Moleküle seiner Haut sich in die Umgebung auflösen; eine Art vibrierender, atomarer Aura umgibt ihn seit dem Besuch des Fremden. Die Briefmarke trägt Uwe immer bei sich. Ohne die Bedeutung zu wissen, ist es ihm ebenso wichtig sie bei sich zu führen wie seine Brille, eine Packung Taschentücher oder seine Geldbörse. In Momenten, in denen keine Kunden im Kiosk sind, legt er sie sich auf die Fingerspitze und betrachtet den Rand, immer ein wenig flirrend und leuchtend. Der kleine Schnitt an der Fingerspitze ist mittlerweile verheilt; wie ein rot glühender Peitschenhieb sieht er aus, und ein wenig, als würde er atmen. Atmen tun auch die Kühlschränke, und ihr beständiges ein- und ausdehnen scheint Wellen im Kiosk auszulösen, von denen der Perlenvorhang in Schwung gerät und das Licht ein wenig gebrochen wird. Uwe ist nicht beunruhigt; das sanfte ansteigen des neuen Zustands fühlt sich fast natürlich an, und noch ist er den Großteil des Tages halbwegs beisammen, bis auf ein paar kleine Aussetzer und Konzentrationsschwierigkeiten – es kommen ihm die sonderbarsten Bilder in den Kopf, vielmehr, sind diese Bilder, für einen Augenblick nur, beim Einschlafen länger; sie sind, genauso wie alles für Uwe nur ist. Wenn es allerdings noch mehr wird, denkt sich Uwe, naja, dann sollte man vielleicht mal zum Doktor gehen.
V
Ein paar Tage später flirrt alles in Uwes Sichtfeld dauerhaft. Nicht nur das der Kiosk flirrt und surrt, auch Uwe selbst scheint immer mehr zu flirren, an den Außenrändern, manchmal scheint ihm, als wenn sein Hinterkopf sich leuchtend auflöst, mit einem Gefühl, als fiele er nach hinten, oder eher: als fiele alles durch sein Gesicht, durch sein Gehirn, seinen Hinterkopf, der ganze Kiosk rauscht wie eine Eisenbahn durch einen Tunnel in Uwe hinein und hinaus, und gleichzeitig schweben Uwes Arme weit weg von ihm, oder wirken mehrdimensional, als wären sie die Wände und Uwe der Kiosk. Wenn der Kiosk ihn – oder er den Kiosk – durchschossen hat, schüttelt Uwe den Kopf, bedient die nächste Kundin oder füllt die Flaschen in den Kühlschränken nach – brummend, summend. Für eine Weile fühlt er sich dann fast normal; der Gedanke, zum Doktor zu gehen, ist verflogen. Uwe stört es auch nicht, dass die Kunden etwas kürzer angebunden sind als sonst und manche von ihnen die letzten Tage zwar an der Scheibe vorbeigelaufen, aber nicht hereingekommen sind; manche Leute haben es halt eilig, denkt er sich, und ich habe es gerade halt nicht so eilig – eine ganz gewöhnliche Feststellung eben, die vollends wertungsfrei einfach nur ist; und wenn er dann doch etwas zu tun hat, funktioniert es, von kleinen Aussetzern abgesehen – Lieferungen oder Päckchen annehmen, andere Päckchen abgeben, Bestellungen aufgeben, Vorräte überprüfen, gemischte Tüten einfüllen, Kassieren; nur ein wenig langsamer und bunter als sonst und gelegentlich so flirrend, dass er, wortkarg, eigentlich nur zustimmend oder ablehnend brummend, doch für einen Augenblick weitaus mehr in Auflösung inbegriffen ist als für gewöhnlich. Dann geht die Tür auf.
“Du wirkst sonderbar, Uwe.” Ute schaut ihn besorgt an. Uwe schaut zurück. Utes rote Haare wehen wie Seetang um sie herum, flirrend an den Rändern, und die Kühlschränke blitzen und blinken hinter ihr.
“Hm”, brummt Uwe. Seine Stirn schwebt wie eine Scheibe Milchglas vor ihm, er sieht Adern darin, den Knochen, die Haut; darunter mit ein wenig Abstand schweben seine Augäpfel. Er hat das Gefühl, als würde er aus seinem Gehirn schauen.
“Ist schon okay, bisschen Kopfschmerzen habbich in letzte Zeit”, hört er sich sagen. Die Töne klingen langgestreckt, elektrisch, nicht wie eine Stimme, und er sieht die Töne wie Lianen aus seinem Kopf wachsen und sich durch den Raum winden.
“Du brauchst mal Urlaub, glaub mir. Stell wen ein, oder mach einfach mal fünf Tage zu, das tut dir sicher gut. Das kann auch eine innere Blockade sein oder …”
Utes Worte schwellen zu einer unkenntlichen Welle an Geräuschen an, die Uwes mittlerweile in transluzente Molekülwolken transformierten Kopf mit sich reißt, in einen rot leuchtenden Strom aus Energie; Uwe sieht den Kiosk von oben, sieht sich von oben, der ganze Raum in gleißendes, flackerndes Licht gehüllt, wie ein Schwimmbecken aus Energie, sieht darin sich hinter dem Tresen, Ute; ein Kunde tritt in den flirrenden, brummenden Raum, und als ein Mann in sonderbar unpassender Kleidung und ohne Schuhe durch die Tür tritt, löst Uwe sich vollends auf.